Explosiv ist momentan die Stimmung im sonst so beschaulichen Pitztal. Aber nicht, wie man vielleicht denken würde, wegen der üblichen Sprengungen zur Beseitigung kritischer Lawinengefahren. Nein, Stein des Anstoßes ist vielmehr ein alpines Bauvorhaben, mit dem die beiden Skigebiete von Pitztal und Ötztal in Zukunft miteinander verbunden werden sollen. So kommt der hintere Talschluss seit Wochen kaum zur Ruhe, trotz mehr als 1,5 Meter Neuschnee und obwohl der Skibetrieb erst am 7. Dezember offiziell startet. Der tatsächliche Grund ist eine emotional geführte Debatte rund um den geplanten Gletscherzusammenschluss, bei der sich Befürworter als auch Gegner unausweichlich gegenüberstehen. Diskutiert wird dabei mit harten Bandagen und rund um die große Frage, ob wirtschaftliche Interessen generell über den Schutz unberührter Naturlandschaften gestellt werden dürfen. Wir waren vor Ort und haben durch Gespräche mit Beteiligten der verschiedenen Lager versucht, ein möglichst neutrales Bild zu zeichnen.
Hausgemachte Probleme mit enormer Sprengkraft
Spätestens mit der „Sprengung“ eines Berggrats im Skigebiet von Pitztal im Oktober 2018 ist es in der Tiroler Urlaubsregion mit der Ruhe vorbei. Denn darin sehen die Kritiker bereits die Vorboten für das, was mit dem geplanten Bauvorhaben erst losgetreten werden könnte. Denn damals wurde ein rund 350 Meter langer Skiweg aus betrieblichen Sicherheitsgründen saniert und unerlaubterweise ein Stück Fels beseitigt. Die Folge war ein juristischer Streit über die Zulässigkeit dieser Maßnahmen, was schlussendlich zu einer temporären Sperrung des Areals führte und den Liftbetrieb über mehrere Monate stark beeinträchtigte. Ein Worst-Case-Szenario, das vor allem unten am Talboden immens zu spüren war, da viele Hotels und deren Betten aufgrund der ausbleibenden Ski-Touristen leer blieben. Probleme, die man im brummenden Nachbartal kaum kennt. Denn dort sorgt seit 1991 die Gletschermumie „Ötzi“ für konstante Besucherströme und zufriedene Gesichter bei den Toruistikbetrieben.
Ganz anders schaut es im Pitztal aus, das sich gut eine Autostunde in westlicher Richtung vom Skizirkus in Sölden entfernt befindet. Hier ist Melanie Siegele schon froh, wenn ihr Landhaus Edelweiss in St. Leonhard im Jahresdurchschnitt zu 50% ausgelastet ist: „Seit Errichtung des Skigebiets wurden lediglich Instanthaltungsarbeiten vorgenommen oder bestehende Anlagen erneuert. Das vorhandene Skiangebot befindet sich quasi auf dem Stand von 1983„. So sei manche Anlage ihrer Meinung nach längst nicht mehr zeitgemäß. Ein Zustand, der sich definitiv auch auf ihre Umsatzzahlen auswirke. „Wenn ich mir nun vorstelle, ich müsste auf diesem Status Quo noch viele Jahrzehnte so weiter wirtschaften, habe ich ein großes Problem„, zeigt sich die zweifache Mutter besorgt über die Zukunft ihrer kleinen Pension.
So oder so braucht es ein attraktives Angebot für Wintersportler, ohne das es sonst mehr als düster aussehe für die gesamte Region. Ängste, die viele der knapp 7.500 Bewohner im Planungsverband Pitztal mit ihr teilen und sich für den längst überfälligen Ausbau des Skigebiets am Pitztaler Gletscher aussprechen. Natürlich gibt es für die wenigen Sommermonate interessante Projekte im Bereich des sanften Tourismus. Aber davon allein könne man kaum leben, da im Tal rund 8 Monate durchgängig winterliche Bedingungen herrschen.
Wichtige Impulse gegen die wirtschaftliche Talfahrt
Doch nicht nur das mehr oder weniger „selbst verschuldete Dilemma“ stellte das Pitztal in der Vergangenheit vor immer größere wirtschaftliche Probleme. Auch ein seit dem Jahr 2013 zu beobachtender Negativtrend trage dazu bei, dass sowohl die Bettenauslastung stagniere als auch die Talbevölkerung zurückgehe. Immerhin rund -0,5% seit 2009. Ursache sei laut Karl Raich, Bürgermeister von Jerzens, vor allem das mangelnde Angebot an lokalen Arbeitsplätzen und die fehlende Infrastruktur. So verlassen immer mehr Pitztaler allein aus beruflichen Gründen die Region oder müssen täglich zwischen Arbeitsstelle und Wohnort hin und her pendeln. Gleiches gilt auch für Kinder und Jugendliche, die für ihren Schulbesuch lange Wege in Kauf nehmen. Aber auch sonst gestaltet sich das alltägliche Leben im Pitztal alles andere als einfach. So befindet sich die letzte Tankstelle rund 30km vom Talschluss entfernt. Und bis auf ein paar einzelne Lebensmittelläden sucht man in den hochgelegenen Gemeinden vergeblich nach größeren Einkaufsmöglichkeiten wie etwa Hofer, Billa oder M-Preis.
Gründe genug für Elmar Haid, Bürgermeister der Standortgemeinde St. Leonhard i. P., um gemeinsam mit den anderen Gemeindechefs für das alpine Bauprojekt zu werben und für eine der strukturschwächsten Regionen Tirols endlich regionalwirtschaftliche Impulse zu fordern. Ein Wunsch, dem die Tiroler Landesregierung im Jahr 2016 bereits nachgekommen ist und ein „Regionales Wirtschaftsförderungsprogramm“ (RWP) für das Pitztal verabschiedete. Demnach sei „der gesamte Projektbereich bereits seit 2005 mit einer raumordnungstechnischen Widmung des Landes Tirol für eine skitechnische Erweiterung freigegeben“, betont Walter Schöpf, Bürgermeister von Wenns. Wodurch die Basis für das von den Liftbetreibern präsentierte und rund 130 Millionen schwere Bauvorhaben gelegt war. Ein Projekt, das unter anderem die Entstehung von drei Seilbahnen, einem Speichersee und einer Fläche von rund 64 Hektar für neue Pisten vorsieht, von denen sich etwa 58 Hektar auf Gletschergebiet befinden. Einem Anteil, der lediglich rund 0,6 % der gesamten Gletscherfläche von St. Leonhard und Sölden entsprechen soll.
Kurzsichtige Profitgier oder doch (lebens-)notwendige Investition?
So sorgten die alpinen Baumaßnahmen nach deren Bekanntwerden schnell für einen länderübergreifenden Widerstand seitens der Alpenvereine sowie der verschiedensten Umweltverbände und Bürgerinitiativen. Sogar eine Online-Petition wurde eigens ins Leben gerufen, die mittlerweile mehr als 150.000 Menschen (Stand: 04. Dezember 2019) aus ganz Europa unterzeichnet haben. So wurde das von der breiten Tiroler Bevölkerung anfangs noch als halbwegs vernünftig eingeschätzte Projekt binnen kürzester Zeit zu einem regelrechten Hassobjekt herauf stilisiert und das kleine Tal in einen wahren Hexenkessel verwandelt. Denn laut zahlreicher Gegner handele es sich bei der „Tiroler Gletscherehe“ weniger um einen Zusammenschluss bestehender Skigebiete, sondern vielmehr um eine Neuerschließung drei bisher unberührter Gletscher, bei der man sogar vor einer „Sprengung eines Berggrats“ nicht Halt machen würde. „Dem Schutz noch naturbelassenen Gletscherlandschaften sei unbedingte Priorität einzuräumen“ untermauert Dr. Gerd Estermann, Bürgerinitiative Feldring, sein klares „NEIN zur Gletscherverbauung“. Während Markus Wilhelm, Publizist aus Sölden, sogar noch weiter geht und die wahren Gründe „nicht in der Not sieht, welche die Pitztaler und Ötztaler Touristiker dazu zwingt, es ist die blanke, kurzsichtige Gier, die sie treibt“.
Harte Worte, die durch die teils recht polarisierende Kommunikation der verschiedenen Aktivisten und die offenkundig falschen Darstellungen in den Medien noch zusätzliches Gewicht bekommen. Nicht ohne eine gewisse Polemik, die sich laut Rainer Schultes, Obmann des TVB Pitztal, vor allem „gegen die Menschen im Pitztal richte und einen immensen Schaden anrichten“ würde. Melanie Siegele spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem regelrechten Spießroutenlauf und verweist im gleichen Atemzug erneut auf die breite Unterstützung in der gesamten Bevölkerung. Einer jener Gründe, weshalb sie gemeinsam mit anderen Einheimischen die Interessensgemeinschaft „Lebensraum Pitztal“ ins Leben gerufen hat. Damit ist sie eine von vielen im kleinen Tiroler Tal, die im Gletscherzusammenschluss eine riesige Chance sehen und auf die man mehr als 30 Jahre gewartet habe. „Mit dem Zusammenschluss können wir ein neues Angebot schaffen, das große Chancen bietet und zu einer touristischen und wirtschaftlichen Aufwertung beider Täler führen wird“, sprechen sich auch Eberhard Schultes (Geschäftsführer der Pitztaler Gletscherbahn) und Jakob Falkner (Geschäftsführer der Bergbahnen Sölden) für das alpine Bauvorhaben aus.
Talübergreifender Spagath für eines der „bestgeprüften Seilbahn-Projekte der Alpen“
Allen Befürwortern zum Trotz ist das „bestgeprüfte Seilbahn-Projekt der Alpen“ mittlerweile gewaltig in Schieflage geraten und droht aufgrund des enormen öffentlichen Drucks noch vor dem ersten Spatenstich in eine der zahlreichen Spalten des Pitztaler Gletschers zu rutschen. Denn die Fronten zwischen Gegnern und Fürsprechern des Projekts sind mehr als nur verhärtet. Kein Wunder, werden die zugrunde liegenden Fakten doch jeweils zu den eigenen Gunsten ausgelegt.
Schlussendlich bleibt jedoch die entscheidende Frage: Braucht es den Zusammenschluss der beiden Skigebiete in Zeiten des Klimawandels wirklich? Und wenn ja, wäre eine naturverträgliche und für beide Seiten akzeptierbare Lösung überhaupt denkbar? Nach Auffassung von Stefan Handle vermutlich nicht. Denn „wie man als reflektierter Mensch in Zeiten eines sich ändernden Klimas, das in absehbarer Zeit einen ökonomisch (!) und ökologisch vertretbaren Skitourismus in den allermeisten Gegenden Tirols ohnehin verunmöglichen wird, noch für ein derartiges Projekt sein kann“, ist dem Historiker und Bauhistoriker aus Imst absolut schleierhaft.
Über die Bewilligung der „Gletscherehe“ wird schlussendlich ein rechtsstaatliches Verfahren entscheiden. Ein Prozedere, bei dem die staatlichen Behörden vor der schweren Herausforderung stehen, aus einer neutralen Position heraus eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die wirtschaftlichen Interessen als auch die gesellschaftlichen Bedenken und die empfindlichen Ökosysteme ausgewogen berücksichtigt. Außer bis dato sorgt ein prähistorischer Fund in Form eines „Pitzi“ am Pitztaler Gletscher für die lang ersehnte Tourismus-Attraktion und den damit verbundenen, dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung.