Die Hände werden schweißnass, ein mulmiges Gefühl macht sich in der Bauchgegend breit, die Atmung beschleunigt sich und die Knie fangen an zu zittern wie Espenlaub. Viele Menschen kennen dieses Problem: Höhenangst. Auch unter Wanderfreunden ist die in Fachkreisen als Akrophobie bekannte Angst ein weit verbreitetes Phänomen. Hängebrücken, Gratwanderungen oder einfach nur ausgesetzte Stellen werden zu schier unüberwindbaren Hindernissen. Und irgendwann geht es dann nicht mehr vor und auch nicht mehr zurück. Im schlimmsten Fall muss sogar die Bergrettung kommen, um den blockierten Bergsteiger aus dessen misslichen Lage zu befreien.
Damit es gar nicht erst dazu kommt, mahnen vielerorts die bekannten Warnschilder zur Vorsicht: „Alpine Trittsicherheit und Schwindelfreiheit erforderlich!“ Natürlich kann man als Betroffener solche Stellen meiden oder vor jeder Tour ausgiebig Wanderkarten und Erfahrungsberichte studieren, um kritischen Situationen aus dem Weg zu gehen. Entweder man findet sich mit seiner Angst ab – oder sucht sich sogar direkt eine andere Sportart. Aber ist das wirklich die einzige Lösung?
Nie wieder Berge? Nein danke!
Frank-Uwe Reinhardt hat dazu eine klare Meinung – und diese sogar zum Beruf gemacht. Der 56-jährige ist sogenannter Sport-Mentalcoach und hat sich darauf spezialisiert, Wanderfreunden mit Höhenangst zu helfen. Seiner Erfahrung nach müssen Naturliebhaber es keinesfalls einfach so hinnehmen, nur auf leichten Pfaden wandern oder sich gar nur in der Ebene aufhalten zu können. Denn Höhenangst kann bewältigt werden – mithilfe verschiedener Techniken und Methoden sowie viel praktischer Übung. Am besten zu erlernen sind die Grundlagen in speziellen Kursen unter professioneller Anleitung wie sie vom DAV oder selbstständigen Coaches wie Frank-Uwe angeboten werden.
Ich bin neugierig geworden und will herausfinden, was genau man tun kann, um seine Angst in den Griff zu bekommen. Denn auch wenn ich seit Kindsbeinen in den Bergen unterwegs bin, so kenne auch ich dieses beklemmende Gefühl. Ein Unwohlsein, das mich manchmal hinterhältig beschleicht, wenn ich im Klettersteig in den Abgrund blicke oder sich ein schmaler Grat vor mir auftut. Höhenangst würde ich es vielleicht nicht gleich nennen – wohl eher „Höhen-Respekt“. Aber damit aus diesem Unwohlsein gar nicht erst eine Angstsituation entsteht, ist es entscheidend, richtig zu reagieren. Aus diesem Grund treffe ich mich an einem verregneten Freitag im September mit Frank-Uwe und Karin (52) aus Hannover zum Höhenangst Training in Mittenwald. Das Ziel: Die Sulzleklamm-Hängebrücke unterhalb der mir wohl vertrauten Brunnsteinhütte.
Wie entsteht eigentlich Höhenangst (Akrophobie)?
Wie bei jeder anderen Angstsituation auch liegt der Ursprung von Höhenangst mehr oder weniger im Kopf. Wird etwas als bedrohlich empfunden, werden bestimmte Bereiche im Gehirn aktiviert, Hormone wie Adrenalin und Noradrenalin hochdosiert ausgeschüttet und unser Körper dadurch in Alarmbereitschaft versetzt. Aber auch eine körperliche Reaktion erfolgt, indem die Durchblutung der Muskeln erhöht, die Herzfrequenz sowie die Atmung beschleunigt und die Wahrnehmung stark eingeschränkt werden. Denn jetzt gilt es, schnell und reflexartig zu handeln und nicht erst lange über die beste Strategie nachzudenken. Auch der Blick in den Abgrund kann bei vielen Menschen eine solche Reaktion auslösen.Dabei muss jedoch unterschieden werden, ob es sich um Höhenangst im medizinischen Sinne handelt oder vielmehr um den sogenannten Höhenschwindel, der vom Volksmund zumeist als Höhenangst bezeichnet wird.
Der Höhenschwindel ist eine ganz normale Reaktion des Körpers. Er entsteht, wenn der Abstand zwischen den Augen und dem nächsten sichtbaren Objekt in der Umgebung zu groß ausfällt. Dann fehlen die nötigen Fixpunkte, um im Zusammenspiel von Seh- und Gleichgewichtsorgan unseren Körper stabilisieren zu können. Die Folge: Wir beginnen zu wanken und wollen uns festhalten. Tritt dieser Schwindel in einer bestimmten Höhe oder an einer gefährlichen Stelle auf, so können unter Umständen entsprechende Angstgefühle und Symptome wie Zittern oder Herzklopfen ausgelöst werden.
Forschungen des Klinikums München-Großhadern zufolge ist etwa jeder Dritte einmal in seinem Leben vom Höhenschwindel betroffen. Demgegenüber leiden aber nur etwa drei bis fünf Prozent der Bevölkerung tatsächlich auch an (medizinischer) Höhenangst. Die Symptome sind ähnlich denen des Höhenschwindels. Jedoch steht vielmehr die Angst im Vordergrund, die Kontrolle zu verlieren und tatsächlich in die Tiefe zu stürzen. Im Gegensatz zum Höhenschwindel, der einen natürlichen Reflex des Körpers darstellt, ist die „echte“ Höhenangst eine spezifische Phobie, deren Reizschwelle sehr individuell ausfällt. So können manche Betroffene im Extremfall nicht einmal mehr auf einen Stuhl steigen. Doch egal ob es sich nun um Höhenangst, um Höhenschwindel oder um eine Kombination aus beidem handelt: Die Grenzen, wann der Körper mit Angst reagiert, lassen sich durch Training und viel Übung erweitern. Und hier kommen Coaches wie Frank-Uwe ins Spiel.
Höhenangst kann jeden treffen.
Die meisten Kunden von Frank-Uwe sind zwischen 40 und 60 Jahren alt, wie der gebürtige Spremberger bei unserer Tour zu berichten weiß. Das Publikum ist dabei durchaus gemischt – von geübten Wanderern aus dem Alpenvorland, die mit der Zeit unsicherer geworden sind, bis hin zum „Flachlandtiroler“ mit eher weniger Bergerfahrung. Härtefälle sind ebenso darunter wie die eher „harmlosen“ Kandidaten, wie meine Begleitung Karin und ich es sind. Dementsprechend bietet Frank-Uwe auch spezielle Kurse mit verschiedenen Schwierigkeitsstufen an. Wer unter extremer Höhenangst leidet, dem rät der Mentalcoach ganz klar zu einem Einzeltraining. „Das Wichtigste dabei ist, dass man sich beim Training nicht überfordert oder unwohl fühlt. Man sollte stets nur so weit gehen, wie man es sich selbst zutraut. Beim Gruppentraining bestimmt daher immer das vermeintlich schwächste Mitglied das Tempo“, so der 56-jährige.
Vollkommen unerheblich für das Training ist es jedoch, wieso oder wie lange man schon unter Höhenangst leidet, was mich ein wenig überrascht. Nur wenn Menschen aufgrund eines Traumas entsprechend Angst vor der Höhe haben, dann sind die Kurse von Frank-Uwe nicht das Richtige. „In solchen Fällen sollte man besser einen Psychologen aufsuchen. Eine Abgrenzung, die uns Mentalcoaches auch sehr wichtig ist“ so der passionierte Trainer weiter. Doch bevor es überhaupt ins Gelände geht, werden den Teilnehmern zunächst die theoretischen Grundlagen des Trainings vermittelt. Dabei wird die Entstehungsweise von Angst ebenso thematisiert wie die unterschiedlichen Phasen, die man durchläuft. Denn „bis zu einem gewissen Punkt kann man sich noch selbst helfen. In der Endphase der Angst ist es allerdings nicht mehr möglich und man braucht definitiv Hilfe von außen“ so Frank-Uwe.
„Ich wollte mich von meiner Angst nicht beherrschen lassen!“
An diesem Punkt war ich glücklicherweise noch nie. Und auch meine Begleitung Karin aus Hannover hat eine solche extreme Form der Angst noch nicht erlebt. Kritische Situationen, in denen sie gegen ihre Angst kämpfen musste, hat sie allerdings durchaus bereits bewältigen müssen. Die sportliche und lebenslustige Juristin ist am liebsten draußen unterwegs. Ihre Ferien verbringt sie gerne beim Wandern auf Mallorca und Teneriffa oder beim Bergsteigen in den Alpen. „Ich habe kein Problem damit, über Hängebrücken zu gehen oder von einem Turm in die Tiefe zu schauen. Aber bei wirklich ausgesetzten Stellen oder schmalen Gratwanderungen, da wird mir schon anders“ weiß die sympathische Niedersächsin zu berichten.
Auch die Zugspitze hat Karin schon aus eigener Kraft bezwungen. Genau dort hatte sie aber eines dieser kritischen Erlebnisse, die sie dazu bewogen haben, am Kurs teilzunehmen. Beim Blick in die Tiefe an einer ausgesetzten, sehr schmalen Passage begannen ihre Knie zu zittern und sie wurde immer unsicherer. Am liebsten wäre sie gar nicht mehr weitergegangen. So etwas wie auf der Zugspitze wollte sie nicht noch einmal erleben. Genauso wenig wollte sie aber aufgrund ihres Erlebnisses auf anspruchsvollere Touren verzichten oder vor jeder Wanderung sämtliche Erfahrungsberichte studieren. „Ich fand es total spannend, dass es überhaupt solche Techniken und auch Kurse gibt, die einem zeigen, wie man seine Angst in den Griff bekommen kann. Das wollte ich unbedingt ausprobieren, um für mich selbst sicherer zu werden und mir auf diesem Weg die Angst zu nehmen“, so Karin.
So wie ich mich fühle, so reagiert mein Körper.
Um Höhenangst in den Griff zu bekommen, muss man ein Gefühl für seinen Körper und dessen Reaktionen entwickeln. „Denn so wie ich mich fühle, so reagiere ich auch körperlich. Die Gedanken spielen dabei eine entscheidende Rolle“ erklärt uns Frank-Uwe während des Aufstiegs. „Wenn ich zum Beispiel voller Selbstvertrauen bin, dann ist auch mein Schritt bestimmter und kraftvoller“. Alle Techniken und Methoden, die wir dabei auf unserem Weg zur Brunnsteinhütte erlernen – von subvokalem Training über Affirmationskarten bis hin zur „Hier-und-Jetzt-Methode“ – basieren dabei im Wesentlichen auf drei Pfeilern: Atmung, Haltung und Wahrnehmung. „Die Atmung sollte stets ruhig und gleichmäßig sein. Wenn man merkt, dass man außer Atem gerät oder hektischer agiert, dann hilft es, kurz innezuhalten und sich auf die Atmung zu konzentrieren. Tiefes Ein- und langsames wieder Ausatmen und dabei auf einen aufrechten, lockeren und unverkrampften Gang achten “, so Frank-Uwe. „Wenn man merkt, dass man mit den Gedanken abschweift, nicht mehr konzentriert ist oder das Unwohlsein immer mehr Besitz von einem ergreift, dann kann es beispielsweise helfen, die Blumen am Wegesrand zu zählen.“
Üben, Üben und nochmals Üben lautet die Devise.
Mit dem theoretischen Wissen über die Techniken alleine ist es aber längst noch nicht getan. Wichtig ist vor allem, Erfahrung zu sammeln und sich der Angst zu stellen. Jede Tour, die Spaß macht, kann dabei helfen, die Angst zu überwinden und zunehmend sicherer zu werden. Neben dem mentalen Part des Trainings ist jedoch auch der praktische nicht zu vernachlässigen. Das Üben von Schritt und Tritt-Techniken sowie das rechtzeitige Einlegen von Pausen – um eine Kleinigkeit zu essen oder zu trinken – sind im Kampf gegen Höhenangst ebenso von Bedeutung. Frank-Uwe gibt seinen Kunden während des Trainings daher auch Tipps zum Einsatz der Trekkingstöcke oder wie man am besten auftritt. „Immer mit dem ganzen Fuß. Das machen viele Wanderer falsch und dann werden sie unsicher, wenn sie bergab ins Rutschen geraten“, so der Experte.
Nie wieder Höhenangst?
Rund vier Stunden dauert unser Training mit dem Mentalcoach. Nach getaner Arbeit und einer kleinen Pause auf der Brunnsteinhütte werden wir auf dem Rückweg sogar noch mit ein paar spätsommerlichen Sonnenstrahlen belohnt. Karin und ich sind jedenfalls gespannt, wie wir das Gelernte in der nächsten kritischen Situation zum Einsatz bringen können. Bei den härteren Fällen kann es im Schnitt allerdings bis zu drei Jahren dauern und es braucht viel praktische Übung, um die Höhenangst zu besiegen, wie Frank- Uwe aus seiner Erfahrung heraus zu berichten weiß. Warten wir es ab. Mich ruft der Jubigrat von der Zugspitze hinüber zur Alspitze oberhalb von Garmisch-Partenkirchen jedenfalls schon jetzt ein klein wenig lauter…
Weitere Infos zum Höhenangstcoaching von Frank-Uwe Reinhardt gibt’s unter: www.hoehenangst-coach.com