Es gibt denkbar viele Wege dem Alltag zu entfliehen und dem ständig verursachten Druck durch Zeit, Termine und jedweder Art von Erwartungen zu entkommen. Mancher überkreuzt die Beine und entschwindet dem Hier und Jetzt im Geiste mittels Yoga und Meditation. Andere wiederrum wählen den brachialen Weg und stürzen sich in adrenalingeladene Abenteuer. Der wohl beste Kompromiss aus beiden Optionen scheint mitnichten das Wandern und alpine Klettern in der Bergwelt der Alpen zu sein. Denn wer hier unterwegs ist, wandelt von ganz allein in der eigenen Gedankenwelt umher und überwindet bei so manchem Grat tief verborgene Ängste.
Für den Weg zu sich selbst gibt es keinen Wegweiser
Doch was bewegt so viele Menschen dazu, die Wanderstiefel zu schnüren und tage- oder gar wochenlang in der Natur umherzustreifen? Was treibt sie an, auf jeglichen Luxus des modernen Lebens zu verzichten und sich von einem Tag auf den anderen um ein ganzes Jahrhundert zurückversetzen zu lassen? Die Antwort klingt so banal wie plausibel: Sie suchen den Weg zu sich selbst und finden ihn draußen in der Natur, wo sie sich auf nichts anderes konzentrieren müssen als auf sich selbst.
Sei es bei einem schweißtreibenden Aufstieg, beim Schlendern entlang eines Flusslaufs oder beim Panoramablick über die umliegenden Gebirgsketten. Hier stört kein Handy und kein Computer die innere Ruhe – sofern das technische Gerät auch daheim gelassen oder zumindest lautlos gestellt wurde.
Der tiefere Sinn liegt auf höherer Ebene
Aber vielleicht ist es auch einfach nur die kurzweilige Eindimensionalität des Seins, die Menschen in die Berge führt. Denn hier werden sie lediglich mit einer einzigen Aufgabe konfrontiert: Schritt für Schritt vorwärts zu kommen. Für manchen mag darin ein nie zu begreifendes Phänomen verborgen sein. Welchen Sinn macht es schon, sich auf die Gipfel unzähliger Berge hinaufzuschleppen, um danach unverrichteter Dinge wieder ins Tal zurückzukehren.
Doch vielleicht liegt ja gerade darin das Geheimnis der Wanderkultur. Es geht nicht zwingend darum, Rekorde zu brechen oder anderen etwas beweisen zu müssen. Ganz im Gegensatz zu unserer heutigen Ellenbogengesellschaft wird sich in den Bergen jeder selbst gerecht und tut all das nur für das eigene Ich – allerdings ausschließlich im positiven Sinne.
Der Rucksack ist die einzig zu tragende Last
Nicht selten kommt es vor, dass man am Berg bekannte Menschen trifft, die wie ausgewechselt wirken. Ja fast nicht wiederzuerkennen sind. Sie sind gelassener, ruhiger und mental gefestigter. Als ob ihnen eine große Last von den Schultern genommen wurde – wie befreit von jeglichen Sorgen. Scheinbar ist es ihnen gelungen, die daheim wartenden Verpflichtungen aus dem Hinterkopf zu verdrängen und die alltäglichen Probleme zumindest temporär aus dem Blickfeld zu schaffen.
So bieten sich denn viele Gipfel und sehenswerte Regionen in den Alpen, wo man sich selbst näher kommen und auf die Suche nach dem eigenen Ich machen kann. Ein Besuch lohnt sich dabei immer und jederzeit – sei es nur für einen Tagesausflug oder gar für eine mehrtägige Hüttentour.
Tirol – Mekka der Seelenwanderer
Zu den mitunter schönsten Gegenden zählt wohl das Kaisergebirge in Tirol (Österreich). Gemeinhin wird es auch als Hausberg der Münchner bezeichnet, da der Weg über die A93 in nur knapp einer Stunde bewältigt ist und die Autobahn bis kurz vor Kufstein noch ohne Maut befahren werden darf. Zwar liegt das beeindruckende Bergmassiv auf österreichischem Terrain, aber dennoch tummeln sich dort weniger Einheimische als vielmehr Touristen und Tagesgäste aus dem angrenzenden Bundesland auf deutscher Seite.
Beeindruckend grenzt das Kaisergebirge das Inntal zur östlichen Seite hin ab und erhebt sich majestätisch fast aus dem Nichts empor. Wie ein Bollwerk, von Mutter Natur vor Jahrmillionen errichtet, thront das mächtige Felsmassiv über dem Flussbett des Inn und ragt an seinem höchsten Punkt bis auf 2.344 m in den Himmel. Zu dessen Füßen liegt das Kaiserbachtal, das sich demütig zwischen den hohen Felswänden hindurchschlängelt und erst kurz vor dem Sattel des Stripsenjochs den nötigen Mut fasst, um endlich selbst an Höhe zu gewinnen.
Wo zahme Wanderer auf wilde Kaiser treffen
So unterschiedlich wie die Menschen selbst sind, präsentiert sich auch das Kaisergebirge von gleich zwei Seiten. Seinen eher ruhigeren Charakter offenbart es als grün bewaldetes Hochgebirge und macht dem Namen Zahmer Kaiser alle Ehre. Zahlreiche Ziele eignen sich dort sowohl für gemütliche Bergwanderungen im Sommer oder gediegene Skitouren im Winter. So bietet der Gipfel des eher selten bestiegenen Heubergs für Genusswanderer eine grandiose Aussicht auf das Kaisergebirge, den Walchsee und das Inntal. Wer noch höher hinaus will, erklimmt die Pyramidenspitze (1.997 m) via Klettersteig und wird durch die Schönheit der Einsamkeit belohnt. Denn touristisches Fußvolk verirrt sich kaum hier hinauf.
Dem gegenüber erhebt sich eindrucksvoll die schroffe Wand des Wilden Kaisers und zeigt stets ihr raues Gesicht. Fast schon bedrohlich wirkt das graue Gestein im Vergleich zum satten Grün der Hochalmen des Zahmen Kaisers. Hier fühlen sich in erster Linie all Diejenigen wohl, die hoch hinaus und ihre Nerven kitzeln wollen. Im Winter wie im Sommer tummeln sich an der berühmten Ellmauer Halt unzählige Mehrseillängen- und Sportkletterer, alpine Bergsportler, Skitourengeher und Wintersportfans jeder Couleur. Und alle haben sie stets nur das eine Ziel vor Augen: Den Wilden Kaiser und die eigene innere Unruhe zu zähmen.
Weitere Infos: www.wilderkaiser.info