Nach 1979 werden wir heuer scheinbar wieder Zeuge eines „Jahrhundertwinters“, diesmal allerdings im Süden von Deutschland oder besser gesagt im östlichen Alpenraum. Hier fällt seit dem Jahreswechsel nahezu ununterbrochen Schnee. Was in den nördlichen Gebieten als Regen zu Boden geht, sorgt in den deutschen wie auch in den österreichischen Alpenregionen zunehmend für Chaos und erhöhte Lawinengefahr. Und noch ist längst kein Ende in Sicht.
Trotz zahlreicher Warnungen seitens der örtlichen Behörden und des Deutschen Wetterdienstes begeben sich viele Wintersportler in freies Gelände, um abseits gesicherter Pisten auf Skitour zu gehen. Allerdings sorgen die immensen Neuschneemengen selbst auf sonst lawinensicheren Skitouren für ein erhöhtes Sicherheitsrisiko und mitunter sogar für akute Lebensgefahr. So ist das neue Jahr noch keine Woche alt und schon jetzt sind mehrere Lawinenopfer zu beklagen.
Doch anstatt Mitleid und Anteilnahme zu empfangen, schlägt den Betroffenen, Geretteten und Angehörigen größtes Unverständnis und teils blanker Hohn entgegen. Vor allem in den sozialen Medien entwickeln sich dabei regelrechte Shitstorm-Lawinen. Mit Blick auf die zum Teil unmenschlichen Kommentare einzelner Nutzer stellt sich uns zunehmend die Frage: Hat unsere Gesellschaft mittlerweile jeglichen Anstand verloren?!
Lawinenwarnstufe 4 – natürliche Auslese und selbsverschuldete Dummheit
Wie groß das aktuelle Risiko in den östlichen Alpen ist, zeigt der Lawinenabgang kurz unterhalb der Stoißer Alm am Teisenberg. Eine sechsköpfige Gruppe fuhr hier am Samstagnachmittag, den 5. Januar 2019, ins Tal ab und löste dabei ein Schneebrett aus. Eine 20-Jährige Tourengeherin wurde dabei komplett verschüttet und konnte trotz Reanimationsmaßnahmen nicht mehr gerettet werden.
Kein Grund für Markus W., um unter den Berichterstattungs-Post der Bergwacht auf Facebook folgenden Kommentar abzusetzen: „Sorry, aber selber schuld. Wer zu blöd ist auf Warnungen zu hören, oder keinen Hausverstand hat, selber schuld. Natürliche Selektion.“ Seiner Meinung schloss sich auch Helmut H. an, der den Lawinenunfall mit folgenden Worten kommentierte: „I hob ka Mitleid mit den Tourengeher, Leid tun mir immer die Helfer die sich selber in Gefahr begeben müssen um solche Personen zu retten.“
Auch wenn zum Zeitpunkt des Lawinenabgangs die zweithöchste Lawinanwarnstufe galt und auch wenn an diversen Stellen auf das vorhandene Risiko hingewiesen haben, was rechtfertig solche Kommentare? Zumal beim Platzieren der Meldung noch nicht einmal feststand, wo genau der tödliche Unfall passiert ist und was der konkrete Auslöser für die Lawine gewesen sein könnte. Doch allwissend erheben sich die selbsternannten Experten aus ihren Sesseln und ver- bzw. beurteilen das Geschehene ohne jegliche Kenntnis, was vor Ort tatsächlich geschehen ist.
Das einzige was an dieser Stelle Platz haben sollte, sind Bei- und Mitleidsbekundungen sowie umfassende Anteilnahme. Schließlich ist hier ein junger Mensch gestorben. Als ob dieser Umstand nicht schon traurig genug ist, müssen die Angehörigen und Begleiter im Nachgang auch noch Spot und Hohn ertragen. Was ist in solche „Gscheidhaferl“ nur gefahren, dass diese solche verachtenden und unsäglichen Aussagen treffen?
Reicht es nicht, dass ein Menschenleben zu betrauern ist – ganz unabhängig davon, was die Ursache für dessen Ableben ist!? Die einzige Dummheit begehen doch vielmehr jene, die ohne jegliche Rücksichtnahme ihren Gedankenmüll abladen und den Trauernden dadurch das grausame Gefühl zuschieben, dass es deren Eltern, Kinder, Ehepartner und Freunde nicht anders verdient hätten.
Sind Besserwisser die besseren Menschen?
„TOT – TOT und leider tot… Ich sage das jetzt einmal so provokant, weil… naja, sich Dummheit scheinbar multipliziert. Spezialisten entscheiden am Berg, wo gefahren werden kann und wo nicht. Absperrungen sollen schützen.“, so lauten die Worte eines uns unbekannten Autors auf der Facebook-Seite des Outdoor & Wandern Ideenportals.
Besserwissende (Er)Mahnungen, denen sich auch Anton L. mit folgenden Worten anschließt: „Zumindest gehen wir keine Skitour bei Warnstufe 4 und Schneesturm, der bereits seit 2 Tagen am toben war.“ Es ist schon beeindruckend, wie viele Menschen vor den Displays und Monitoren ihrer Computer plötzlich zu selbsternannten Lawinenexperten mutieren, um aus dem „sicheren Off“ die Lage vor Ort kommentieren und beurteilen zu wollen.
Walter E. fordert im Fall eines geretteten Lawinenopfers im Salzburger Land gar: „Ah ordendliche Strof keart dem Voitrottl, wia kemmen di Bergretter dazua, wegn so oan eana Lebm aufs Spiel zu setzn.“ In dieselbe Kerbe schlägt auch Stefan T.: „Solche deppen gibt es leider genug die nicht auf sowas hören dann unterschätzens einfach lage dafür hab ich auch kein Verständnis der soll richtig Strafe zahlen.“
Interessant zu sehen, wie viele „Daheimgebliebene“ die Weisheit regelrecht mit Suppenkellen gefressen haben. Keiner derjenigen, die sich in den sozialen Kanälen abschätzig äußern, war persönlich vor Ort und kann aus erster Hand berichten, was tatsächlich geschehen ist. Keiner von ihnen weiß, ob der Grund für einen Lawinenunfall auf einen menschlichen Fehler zurückzuführen ist oder ob einfach nur unglaubliches Pech mit im Spiel war.
Natürlich ist es ratsam bei der zweitgrößten Lawinenwarnstufe daheim zu bleiben, auf präparierte Skipisten auszuweichen und die allgegenwärtigen Warnhinweise zu beherzigen. Aber was hilft es den Opfern, wenn das Unglück eingetreten ist und wenn selbst eine sonst so lawinensichere Tour wie bspw. auf den Teisenberg im Chiemgau zur tödlichen Falle wird? Welche Genugtuung muss einem Neunmalklugen ein galliger Kommentar geben, der nichts hinterlässt als ätzende Häme und verachtende Belustigung?
Was lässt jene Individuen denken, sie seien bessere Menschen? Im Grunde genommen sollten sie doch wie jeder andere auch dankbar dafür sein, dass die zumeist ehrenamtlich tätigen Bergwachtler eben nicht das Tun und Handeln der in Not geratenen Menschen be- oder verurteilen, sondern einfach nur deren Leben retten – egal was konkret die Ursachen oder der Auslöser dafür waren, dass sie in solch eine missliche Lage geraten sind. Vielleicht sollte sich mancher die unvoreingenommene und überaus achtenswerte Haltung der Rettungskräfte selbst einmal zu Herzen nehmen, anstatt sich vorschnell ein Urteil zu bilden und sich zum Sprecher eben jener zu machen.
Anstand als Form der Menschenwürde – wir haben ein gesellschaftliches Problem!
Mit Blick auf die oben geschilderten Beispiele und die zunehmende Verrohung im Umgang untereinander wird deutlich, dass die sozialen Medien nur einen kleinen Einblick in die Abgründe der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung geben. Es scheint fast so, als hätten manche jeglichen Anstand verloren. Immer häufiger lässt sich beobachten, dass auf die Gefühle unserer Mitmenschen nur noch wenig Rücksicht genommen wird.
Doch anstatt sich über das Leid anderer zu erheben, sollte sich jeder an die eigene Nase fassen und sich die Frage stellen: Möchte ich im Fall einer Notsituation selbst so behandelt und abgeurteilt werden? Denn mal ehrlich, wer den Lawinenopfern puren Egoismus und unverantwortliches Verhalten vorwirft, hat scheinbar selbst noch nicht in den Spiegel geschaut. Passend dazu empfehlen wir abschließend noch die Lektüre des Blogbeitrags „Absturz der Empathie“ von Gabriel Egger, der die Thematik auf bergaufundbergab.blogspot.com mehr als nur treffend zusammengefasst hat.